Im Januar 2023 bin ich als neue Leiterin des Suhrkamp Theater Verlages, nach elf Jahren beim Berliner Theatertreffen, in dieses fantastische Haus gekommen. Die Torstraße 44 in Berlin Mitte ist ein durch und durch besonderer Ort – Autor:innen, Architektur und Aura verbinden sich hier zu einem zeitgenössischen und zugleich traditionellen Ganzen. Mit Freude und Bewunderung habe ich die Vielstimmigkeit der zeitgenössischen Autor:innen und ihre Werke kennengelernt und bin mir des großen Erbes der in unserer Backlist vertretenen Autor:innen, wie Brecht, Fleißer, Frisch, Bachmann, Hesse, Bernhard und viele andere mehr, bewusst. Ich habe ein hochprofessionell arbeitendes Team von langjährigen und neuen Kolleginnen an meiner Seite und mir zum Ziel gesetzt, das Existierende zu vertiefen und das Zukünftige anzugehen.
Ein erster Schritt ins Morgen ist, dass wir ab sofort zusätzlich Autor:innen vertreten, die auch als Regisseur:innen arbeiten. Wir freuen uns sehr, die chilenische Theatermacherin Manuela Infante neu im Theater Verlag begrüßen zu dürfen. Sie ist dafür bekannt, dass sie aktuelle philosophische Themen szenisch artikuliert und Werke schafft, die zwischen Musik, Literatur sowie darstellender und bildender Kunst angesiedelt sind. Ebenso sind wir glücklich, die Schweizer Autorin Ariane Koch, deren preisgekrönter Debütroman Die Aufdrängung in der edition suhrkamp erschienen ist, nun auch mit ihren neuen Stücken zu vertreten. Ariane Koch ist eine brillante Erzählerin, die sich in ihren Texten gern an einem ›Gegen-Narrativ‹ abarbeitet und disziplinäre Grenzen überschreitet. Fatma Aydemir, die durch ihre erfolgreichen Romane Ellbogen und Dschinns bekannt geworden ist, hat ihr erstes Theaterstück, Doktormutter Faust, geschrieben. Dass wir sie als Theaterautorin vertreten, macht uns sehr froh. Fatma Aydemir, Manuela Infante, Ariane Koch sind drei spannende Stimmen für das Theater, die hervorragend in unser bewährtes wie multiperspektivisches ›Autor:innenensemble‹ passen!
Als Leitmotiv für das Magazin 2024 haben wir das Thema Kipppunkte gewählt. Judith Schalansky war uns mit ihrem jüngsten Essay Schwankende Kanarien eine Inspiration. Darin beschreibt sie die ersten Frühwarnsysteme der Menschheit, wie etwa die von den Kohleminen-Arbeitern, die stets Kanarienvögel mit unter Tage nahmen. Sobald der Sauerstoffgehalt absank, kippte der Vogel um und starb: das Zeichen für die Bergarbeiter, die Mine schleunigst zu verlassen. So wird der kippende Vogel hier selbst zur Metapher für kippendes Leben.
Ein Kipppunkt markiert immer das plötzliche Umschwenken eines bestehenden Systems in ein neues, vorher nicht dagewesenes. Es ist der Moment, an dem eine bis dahin lineare Entwicklung abbricht, die Richtung wechselt oder in ein Ungleichgewicht fällt.
Blickt man auf all die gegenwärtigen Krisen und Konflikte, so entsteht nicht selten der Eindruck, dass sich unsere Welt längst im (Um-)Kippen befindet. Kipppunkte interessieren uns aber nicht nur auf politischgesellschaftlicher und privat-individueller Ebene, sondern natürlich auch, wie sie gegenwärtig und seit jeher in Kunst und Dramatik Widerhall finden.
Wir haben für dieses Magazin die Extremismusforscherin Julia Ebner, die Meeresbiologin Antje Boetius und den:die Aktivist:in Ozi Ozar eingeladen, mit einigen unserer Autor:innen über klimatische, systemische und soziale Kipppunkte zu sprechen. Entstanden sind drei spannende Gespräche zum besorgniserregenden Rechtsruck in unserer Gesellschaft, zum Klimawandel, der in eine große Menschheitstransformation führt, sowie über die Situation im Iran und über unterdrückte Körper.
Ergänzt werden die Gespräche durch Beiträge von Noah Haidle, Patty Kim Hamilton, Wolfram Höll und Sam Max, die jeweils ganz individuelle Kipppunkte beleuchten.
Die Gestaltung dieses Magazins liegt erstmalig in den Händen von studio hanli, dem Grafikerduo Elias Hanzer und Lucas Liccini, die auch unsere Buchreihe Suhrkamp Theater grafisch verantworten. Die Reihe wurde jüngst von der Stiftung Buchkunst zu den Schönsten Deutschen Büchern des Jahres 2023 gewählt. Die grandiose Comiczeichnerin Anna Haifisch liefert mit ihrem leisen, diffizilen Humor und ihrer Leidenschaft für Tierfiguren die passenden Illustrationen für unsere Kipppunkte. Und wir freuen uns, dass Max Zerrahn das Magazin weiterhin mit seinem einzigartigen fotografischen Blick auf unsere Autor:innen begleitet.
Es gibt also viel zu entdecken an diesem Kipppunkt zwischen Erprobtem und Unbekanntem – in den Stücken unserer Theaterautor:innen und in den Beiträgen in diesem Magazin. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und freuen uns auf die Begegnung, den Austausch und die Zusammenarbeit!