»Geboren bin ich in einem Grab, in einer Wiege werde ich sterben.
Nun bin ich Merlin geworden, das allwissende alte Kind.
Ein Entertainer, Zauberer, Erzähler. Verehrtes Publikum, lass mich dir meine Geschichte vom Sterben erzählen, damit ich nicht sterbe.«
(Der Schauspieler und der Tod, 1988)
Lieber Christian, liebe Familie von Ursula, liebe Freund:innen und liebe Kolleg:innen!
Als ich von Ursulas Tod erfuhr, war mein erster Gedanke: Jetzt ist sie wieder mit Tankred zusammen!
Denn, auch wenn ich die beiden natürlich unabhängig voneinander wahrgenommen habe, war Ursula für mich kaum ohne Tankred zu denken und Tankred definitiv nicht ohne Ursula.
Das mag nach Abhängigkeiten klingen, so war ihr Leben aber ganz und gar nicht. Es war – aus meiner Perspektive – eine symbiotische Arbeits- und Lebensgemeinschaft: aufrichtig, respektvoll und wissend um die Stärken und Schwächen des Gegenübers. Sie waren ein einzigartiges Autor:innenkollektiv und Künstler:innenpaar – über 50 Jahre lang. Das habe ich bewundert.
Ursula begegnete Tankred Mitte der 60er Jahre am Münchner Marionettenstudio Kleines Spiel. Almut Wagner erzählte mir, dass Ursula ihr vor ein paar Jahren diese erste Begegnung wie folgt geschildert habe: »Sie kam die Treppe herunter und Tankred stand dort und sie wusste, dass das der Mann ist, mit dem sie ihr Leben verbringen wird.« (Da war sie noch verheiratet).
Und Ursula selber beschrieb es so: »Er arbeitete gerade am Toller und erzählte mir davon. Und ich konnte und wollte nicht ahnen, dass aus dieser Begegnung schließlich eine große Nähe entstand, ein Gespinst aus Leben und Arbeit.«
Das Stück Eiszeit, uraufgeführt 1973 in Bochum, war dann ihr erstes gemeinsames Werk. »Wir schreiben das Theater neu!«, lautete die Devise des Uraufführungs-Regisseurs Peter Zadek.
Tankred und Ursula entwickelten ihre Stücke im permanenten Dialog. »Unser Leben ist ein Gespräch«, sagte Tankred über ihre Zusammenarbeit. Sie erfanden gemeinsam Figuren, indem sie über sie sprachen, sie aufeinanderprallen ließen, mit ihnen lebten.
Die Charaktere und ihre Handlungen entstanden in einem dramaturgischen Ping-Pong-Spiel der sich zugeworfenen szenischen Einfälle.
Oft teilten sie in diesem Schaffensprozess ihre Ansichten, sie waren aber auch verschieden genug, um »riskante Auseinandersetzungen« zu führen, wie Ursula sagte. »Es ist keine gemütliche Häkelarbeit, es wird gestritten und gefeilscht, verworfen und doch wieder neu begonnen.«
Auf die Frage, was für mich das Besondere an den beiden war, antworte ich: Sie waren permanent und ständig neugierig!
Auf die Welt, auf Menschen, besonders auch auf die junge Generation. Neugierig waren sie aber insbesondere auf andere Autor:innen – und damit meine ich nicht Tschechow, Büchner oder Hauptmann, denen sie sich nahe fühlten – sondern auf die Konkurrenz, und vor allem waren sie neugierig auf die internationalen Kolleg:innen.
1992 gründeten Ursula und Tankred – gemeinsam mit Manfred Beilharz – das Autor:innenfestival Bonner Biennale. Denn sie wollten wissen, »was in Europa geschrieben wird«.
Bei der Biennale habe auch ich Ursula und Tankred vor 25 Jahren kennengelernt. Als wir die Neuen Stücke aus Europa dann gemeinsam kuratierten, habe ich viel von ihnen gelernt: von ihrem vorurteilsfreien, ganz gegenwärtigen, immer reflektierenden Blick auf zeitgenössische Dramatik.
Ehler und Dorst, diese vielseitig begabten Autor*innen mit ihrer unerschöpflichen Schaffenskraft, hinterlassen über 50 Theaterstücke in sämtlichen Gattungen: Tragödie, Komödie, Marionettentheater, Kindertheater, Märchen, Parabel, Farce, Lehrstück, Hörspiel, Libretto, Fernsehspiel und Drehbuch.
Die meisten davon sind im Suhrkamp Theater Verlag erschienen.
Mit ihren Stücken und Stoffen reagierten sie immer auf die großen Wandlungen der Welt. Und mit ihren eigensinnigen Themen und unterschiedlichen Tonarten haben sie das Theater stets vor neue Aufgaben gestellt, es nie bedient, sondern immer herausgefordert. In den 70er und 80er Jahren war ein Theaterspielplan ohne ein Stück von Dorst/Ehler nicht denkbar.
Und heute? »Man ist ja auch ein Kind seiner Zeit«, sagte Tankred gerne. Ursula und Tankred haben immer für ihre Zeit geschrieben. Und doch lohnt es sich gleichermaßen, die Zeitlosigkeit ihres Werkes wieder zu entdecken.
Die Geschichte vom Herrn Paul etwa, der in seiner Seifenfabrik ausharrt und seinen Besitz an keinen Spekulanten der Zeitenwende verkaufen will, kann als Kommentar auf den Ausverkauf unserer Städte gelesen werden.
Oder ein jüngeres Stück mit dem Titel Ich bin nur vorübergehend hier: ein schonungsloser Blick auf das Alter in einer Gesellschaft, in der der demografische Wandel vollkommen neue Lebensmodelle einfordert.
Und natürlich der Merlin mit seinen 15 Stunden Spieldauer und 97 Szenen – ihr Opus Magnum, das von der Brüchigkeit der Zivilisation erzählt. Es ist auch ein Spiegel unserer Gegenwart, die dringender denn je neue Werte und Orientierung benötigt.
Und der Versuch über das Böse in Korbes ist in seiner Universalität ohnehin zeitlos.
Ursula und Tankred waren unerlässlich produktiv. Sie haben noch bis kurz vor seinem Tod 2017 an einem Libretto geschrieben: ein Fragment mit dem Arbeitstitel Frédéric. Es geht darin um das rheinische Unternehmertum und Friedrich Engels, drei Affen spielen die Hauptfiguren. Man kann sich das so richtig gut vorstellen, wie die beiden dasitzen und die Affen sprechen lassen …
Für Ursula war es nicht leicht, sich nach Tankreds Tod neu aufzustellen, die andere Hälfte war nicht mehr da.
Ich bin sehr froh, dass du das trotzdem noch einige, wunderbare Jahre geschafft hast, liebe Ursula. Dein Interesse am Theater, am Kino, an der Kunst und den vielen dir verbundenen Theatermenschen hat nie nachgelassen. Deine Besuche beim Theatertreffen waren mir immer wichtig. In den Gesprächen nach der Vorstellung blitzte bis zum Schluss deine quirlige, forsche Art auf – immer die Kunst wertschätzend, und doch wusste ich sofort, ob es dir gefallen hatte.
»Wer hätte hätte hätte das gedacht«, schriebst du am 25. Oktober 1981 in euer gemeinsames Tagebuch nach der unerwartet erfolgreichen Düsseldorfer Merlin Uraufführung.
Das klingt wie ein guter Lebensslogan für deine optimistische Offenheit, deine zugewandte Wärme, deine immerwährende Energie und unablässige Neugier. Liebe Ursula, hab es gut! Jetzt bist du wieder mit deinem Tankred vereint: Habt es gemeinsam gut!
Die Rede von Yvonne Büdenhölzer basiert auf einem Nachruf für Theater heute, erschienen im April-Heft 2024.