In unserer Lesereihe ZUHÖREN präsentieren wir fortlaufend eine Autorin oder einen Autor, die für uns aus einem ihrer Stücke lesen. In der aktuellen Folge liest
Anne Jelena Schulte aus
Die Normalen // Ist kein Balsam in Gilead, das am 4. September UA am Theater Bielefeld hatte (Regie: Peter Kastenmüller).
Europas größter Hügel. Europas schönster Hügel. Gilead. Alle Gebäude tragen biblische Namen. Rosen und Therapiepferde auf grünen Weiden, ein Raucherpavillon. Hier oben thront Blanche, Queen of the hill, die laut lacht und mit ihrer Macht umzugehen weiß. Hier ist auch der Bruder vom Bruder zu finden, der seinem Bruder einen Besuch abstattet und dabei eventuell auf sich selbst trifft. Es gibt auch Transmitter zwischen unten und oben, dem Hügel und der Stadt, wie die Nixe, die früher Veranstaltungstechnikerin war und jetzt eine Botin zwischen den Welten ist. Sie schwimmt runter und bringt das gewünschte Stück Lieblingsseife mit hoch. Wir haben es ganz nach oben geschafft, sagen die Bewohner:innen. Die Stadt liegt unter ihnen, oft auch hinter ihnen, diese Außenwelt, Gegenwelt, Angstwelt.
Was passiert, wenn das Ich in sich selbst fällt? Ist das, was wir gemeinhin Realität nennen, nur eine erfolgreiche Hierarchisierung der Welt? Und wie gestaltet sich eine Gemeinschaft, in der diese Hierarchisierung außer Kraft gesetzt ist? Im Bielefelder Stadtteil Bethel, wo Menschen mit körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen leben, hat Anne Jelena Schulte Patient:innen, Angehörige, Ärztinnen, Psychiater:innen und Pfleger getroffen und, inspiriert durch diesen Austausch, einen Theatertext entwickelt, der sich mit der Psychiatrie als Institution auseinandersetzt.
Die Normalen tastet, auch sprachlich, verschiedene Grenzbereiche ab: zwischen Psychose und Erlösungssehnsucht, zwischen krankhafter Selbstzerstörung und gesunder Rebellion gegen krankmachende Strukturen. Entstanden ist ein vielstimmiger Text ohne Rollenzuschreibungen, der mit eindrücklichen Bildmotiven arbeitet.