In unserer Lesereihe ZUHÖREN präsentieren wir Autor:innen, die für uns aus einem ihrer Stücke lesen. In der aktuellen Folge liest Fatma Aydemir aus ihrem Debütstück Doktormutter Faust. Die Faust-Neuschreibung feierte am 9. September 2023, zum Spielzeitauftakt der neuen Intendanz von Christina Zintl und Selen Kara, die hier auch Regie führte, Uraufführung am Schauspiel Essen.
Was muss sich in dieser berühmten Geschichte ändern, damit sie fürs Theater relevant bleibt? An dieser Geschichte vom genialen Dr. Faust, der aus seiner Weltüberdrüssigkeit heraus einen Pakt mit dem Teufel eingeht und schließlich das Leben einer jungen Frau auf dem Gewissen hat. Das fragen sich die Theaterdirektorin, die lustige Person und die Dichterin und beschließen, aus der Gretchenfrage die Konsensfrage zu machen. Aber wo Wissen und Hierarchien sind, sind auch Macht und potenzieller Machtmissbrauch anwesend. Und wo politische Repression regiert, sind Widerstand und Verrat nicht weit.
Dr. Margarete Faust wird Ziel einer Hetzkampagne und soll von ihrem Lehrstuhl für Genderstudies suspendiert werden. In einem Deutschland, in dem eine rechte Regierung das Recht auf Abtreibung abgeschafft hat, soll Faust einer Studentin geholfen haben, ihre ungewollte Schwangerschaft im Ausland zu beenden. Und so wird die Professorin, die ihr Leben der Arbeit gewidmet hat, trotz oder gerade wegen ihres Kultstatus zur Zielscheibe des Populismus und steht vor dem Ende ihrer Karriere. Dieses erschütterte Selbstbild nutzt Mephisto als Einfallstor, um ihre Selbstwahrnehmung auf ihren Körper und seine Bedürfnisse umzulenken. Faust sehnt sich danach, im Augenblick zu verweilen. Und so schleust Mephisto ein ganz anderes Gretchen in diese Geschichte ein und Faust muss sich den Fragen nach der eigenen Korrumpierbarkeit und den Grauzonen des Begehrens stellen.
Fatma Aydemir entwirft so schlagfertige wie eindringliche Figuren, die sie gekonnt immer weiter in ein konsequent verdichtetes Beziehungs- und Handlungsgeflecht hineinschreibt.
Doktormutter Faust durchleuchtet den klassischen Faust-Stoff mit feministischem Blick und unter kritischer Beobachtung zweier gegenwärtiger Tendenzen: dem Personenkult emanzipatorischer Bewegungen und der zunehmenden Gefahr des rechten Populismus.
»Unverblümt und locker ruft Fatma Aydemir in ihrem ersten genuinen Theaterstück zeitgenössische Diskurse auf.« (taz, 10. September 2023)
»Das Stück ist ein großer Wurf … Mit leichter Hand legt dieser Abend die Absurdität der Diskurse frei, so dass oft lautes Lachen im Zuschauersaal ausbricht. Gleichzeitig nimmt er die verhandelten Konflikte jeder Figur wohltuend ernst, beleuchtet sie in ihren psychologischen Konsequenzen.« (nachtkritik, 10. September 2023)
»Aydemirs Theatertext-Debüt spielt so gelungen wie ironisch mit der Sprache sowie aktuellen Diskussionen um Abtreibung, Religion oder Gender.« (Die Deutsche Bühne online, 10. September 2023)