In unserer Lesereihe ZUHÖREN präsentieren wir fortlaufend eine Autor:in, die für uns aus einem ihrer Stücke liest. In der aktuellen Folge lesen Selma Kay Matter und Marie Lucienne Verse abwechselnd aus Alias Anastasius, das am 10. März UA am Berliner Ensemble hatte (Regie: Fritzi Wartenberg).
Das Urteil fällt ungewöhnlich hart aus: Am 8. November 1721 wird Catharina Linck alias Anastasius Rosenstengel als letzte weiblich gelesene Person Europas wegen »Unzucht mit einem anderen Weybe« in Halberstadt enthauptet und anschließend verbrannt. Nachdem sier jahrelang selbstbestimmt und couragiert als Mann durchs Leben gegangen ist, unter immer neuen Aliasnamen in verschiedenen Heeren diente, mehrfach desertierte, dem Galgentod durch ein spontanes Selbstouting als Frau nur knapp entging und Catharina Mühlhahn heiratete, wird sier von der Schwiegermutter angezeigt. Es kommt zu einem Prozess, in dem alle intimen Details auseinandergenommen werden. Paradoxerweise ist es diesem Prozess zu verdanken, dass wir heute von dieser ungewöhnlichen historischen Persönlichkeit wissen und Briefwechsel und Gerichtsakten sies Leben dokumentieren.
Inspiriert von Angela Steideles Buch In Männerkleidern haben Selma Kay Matter und Marie Lucienne Verse ein Stück geschrieben, das den Prozess zum Ausgangspunkt nimmt, um schlaglichtartig in prägnante Szenen aus dem Leben von Anastasius Rosenstengel einzutauchen und dabei einen größeren Kontext queerer Geschichtsschreibung aufleuchten zu lassen. Matter*Verse finden dafür eine Sprache und einen Erzählstil, die ebenso leichtfüßig, wendig und inspirierend sind, wie es diese außergewöhnliche und schillernde Persönlichkeit war.
Alias Anastasius ist das zweite Theaterstück des Autor:innenduos Matter*Verse. Es entstand als Auftrag des Berliner Ensembles im Rahmen des Nachwuchsförderprogramms WORX und im Austausch mit der Regisseurin Fritzi Wartenberg, die diese Uraufführung inszenierte.
»Das Stück erzählt die Geschichte eines kriminalisierten Menschen, der in dem Versuch, die eigene innere Wahrheit nicht ersticken zu lassen, eine scheinbar festgelegte Welt ins Wanken bringt.« Theater der Zeit, 2023