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Die Frage nach der Herkunft ist die Triebfeder für die Arbeiten von Sivan Ben Yishai, Enis Maci, Martin Heckmanns und Akın Emanuel Şipal. Sie befragen nationale Identität mit ihren unterschiedlichen Stimmen des Erinnerns - als Flechtwerk aus Geschichte, Politik und Biografie.
PAPA LIEBT DICH von Sivan Ben Yishai
aus dem Englischen von Maren Kames
Ein S-Bahn-Zug rast durch den Untergrund der Stadt, es ist früher Morgen. Oben feiert der Sommer seine besten Tage. Unten stehen Raum und Zeit plötzlich still. Eine alte Frau sitzt hier, in ihrem Kostüm erstarrt, wie körperlos. Ihr gegenüber eine junge Frau, noch liebestrunken von der verbrachten Nacht. In ihrem Blick erstrahlt und vervielfältigt sich die alte Dame zu neun Königinnen, in aller Würde und Lächerlichkeit des Alters sitzen sie vor ihr.
Mit dieser Situation beginnt PAPA LIEBT DICH, als dritter Teil der Tetralogie LET THE BLOOD COME OUT TO SHOW THEM. Sivan Ben Yishai hat ein Generationenporträt geschrieben über den weiblichen Körper und sein Altern, dieser Körper als Hoheitsgebiet für Mann, Familie und Nation. Und fragt damit auch: Was ist die Rolle, die wir heutzutage beanspruchen, als Generationen, die im Schoße des Feminismus aufgewachsen sind? Sie entwirft für ihre eigene Generation ein weiblich selbstbestimmtes Gegenbild, in dem die Männer endlich auf dem Gepäckträger sitzen, die Frauen in die Pedale treten und die Lebensfreude durchbricht wie Neonfarben in einem Ölgemälde. (Besetzung variabel)
UA: 16.2.2018, Maxim Gorki Theater, Regie: Suna Gürler
Lebendfallen von Enis Maci
Obwohl auf Lebenszeit Teppichbodenbabys, sind aus ihnen vier junge Menschen geworden, gute Freundinnen und Freunde, die sich treffen, trinken. Im Mittelpunkt von Enis Macis Lebendfallen steht der gemeinsame Ort, in den ihre Eltern auf unterschiedlichen Wegen gekommen sind und den diese jungen Menschen aus Ermangelung an Alternativen nun Heimat nennen. Die Suche nach der eigenen Identität steht im Schatten des latenten Schmerzes, der ihren Familiengeschichten innewohnt. Welche Perspektiven haben die vier? Welche Rolle spielt die Scham bei der Überwindung von sozialen Verhältnissen? Bleiben sie, obwohl sie inzwischen die Dielen ihrer Altbauwohnungen ölen, nicht für immer Teppichbodenbabys?
VIER eine beschissene sozialkaufhaus-caritas-barmherzigkeitshaut
ist das ist meine haut
die ich liebe weil ich sie kenne
aus der ich um mein leben nicht rauskomm
Enis Maci gliedert und bricht ihr poetisches und kraftvolles Stück über Erwachsenwerden, Freundschaft und die Befragung einer nationalen Identität mit deutschem Volksliedgut und führt einen Chor ein, der den Resonanzraum deutscher Geschichte erklingen lässt. (2 D, 2 H, Besetzung variabel)
UA: 9.3.2018, Schauspiel Leipzig, Regie: Thirza Bruncken
Mein Vater und seine Schatten von Martin Heckmanns
Auf einer Trauerfeier kommen die Kinder und Enkel des Verstorbenen zusammen und gedenken seiner im Spiel. Gemeinsam vergegenwärtigen sie sich noch einmal prägende Stationen seines Lebens und ihres Landes und fragen, was bleibt.
Im Krieg in Dresden geboren, nach Bonn geflohen, erfährt die Hauptfigur ihre Kindheit als Wachstumswunder, ihre Jugend als Halbstarker, studiert in Frankfurt Kritische Theorie, feiert anschließend Erfolge als Künstler bis ihn die Fragen nach Sinn und Fortschritt heimsuchen, er flüchtet sich in Aktivitäten und endet schließlich als verwirrter Alter in einer veränderten Heimat, die er nicht mehr erkennt.
Von Schatten und Zeitgeistern wird dieser deutsche Michael durch seine Leben im Zug der Gesellschaftsgeschichte getrieben, ringt mit dem toten Vater, mit der schweigenden Mutter und mit einem abwesenden Gott. Er bittet Geistesgrößen um Lebenshilfe und malt Zeit seines Lebens Bilder dieses Landes, die er beständig überarbeiten muss.
Mein Vater und seine Schatten von Martin Heckmanns entwirft einen großen historischen Bogen als Lebenslauf, sucht dabei nach Gründen unserer Gegenwart und belebt eine Geistergeschichte der BRD als bewegte Biographie einer von der Zeit zerrissenen Vaterfigur. (1 H, mind. 3 DarstellerInnen)
UA: 21.2.2020, Theater Münster, Regie: Frank Behnke
MUTTER VATER LAND von Akın Emanuel Şipal
„Was, wenn weder Wut noch Scham mit diesem Türkenthema zusammenhingen?
Was, wenn ich einfach ein schambehafteter Wüterich wäre, der nur Ausflüchte suchte, um seine
gewöhnlichen Gefühle aufzuwerten, und sie einfach nur in die Erzählung kultureller Unterschiede
einspeiste, WEIL DAS EN VOGUE IST
Plötzlich erschiene alles in einem anderen Licht, der Durchschnitt, die Mittelmäßigkeit
entpuppten sich vor mir als meine wahre Herkunft
Jetzt wüsste ich, warum ich mich wie ein Betrüger fühlte in teuren Restaurants
Weil ich gewöhnlich wäre und das Unwohlsein unerträglich würde
sobald ich die Provinz, der ich entstamme, verließe, MITTELFELD
HEIM DER MITTELMÄSSIGKEIT HORT DER HALBEN HERZEN“
Was bedeutet es heute, türkisch zu sein? Was hat es vor hundert Jahren bedeutet?
Vier Generationen, hundert Jahre Familiengeschichte und der Versuch dem Erinnern eine Form zu geben, indem Höhepunkte und Tiefschläge vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Umbrüche der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft verhandelt werden.
In Szenen, Anekdoten, Tiraden, Träumen und Rachephantasien wiederholen sich die schmerzhaften Erfahrungen von Verlust und die Angst, nicht dazuzugehören. Gibt es ein Leben außerhalb der Sprache(n)?
MUTTER VATER LAND von Akın Emanuel Şipal lotet die Grenzen von Autobiografischem und Fiktionalem, von Theater und Text, von Sprechen und Spiel aus. (Besetzung variabel)
UA: 23.09.2020, Theater Bremen, Regie: Frank Abt