»Kunst war nie ein Mittel, die Welt zu ändern, aber immer ein Versuch, sie zu überleben.«
Thomas Brasch
Die Intensität seiner Texte erfasst eine:n bis heute, auch der Theaterstücke, die bisher keine Uraufführung erlebt haben. Am 19. Februar wäre Thomas Brasch 78 Jahre alt geworden. Geboren im englischen Westow/Yorkshire als Sohn jüdischer Emigranten, verstarb er am 3. November 2001 in Berlin. Der Schriftsteller, Lyriker, Theaterautor, Filmregisseur und Übersetzer ist bis heute einer der markantesten Stimmen der neuen deutschen Literatur. Auf zeitgenössischen Bühnen sind die Übersetzungen und Bearbeitungen der Stücke Shakespeares und Tschechows präsent, die Zeugnisse sind von Braschs beherztem, kreativem Umgang mit seinen literarischen Vorbildern. Während Brasch bei Shakespeare dramaturgisch und sprachlich stärker eingriff, neue Figuren erfand, entdeckte er bei Tschechow eine Nähe zu Beckett - entgegen der geläufigen Samowar-Seligkeit anderer Übersetzungen. Die Selbstverständlichkeit seiner klaren, knappen, gestischen Sprache, seine Poesie, sein Humor mit Hang zum Kalauer prägen diese Arbeiten. Sie erklären den anhaltenden Erfolg ebenso wie Braschs Erzählhaltung: Figuren in all ihrer Widersprüchlichkeit treten besonders klar hervor. Mit Shakespeare und Tschechow verbindet den Dramatiker Thomas Brasch schließlich das Vermögen, Komödie in der Tragödie, Tragödie in der Komödie zu denken und zu erzählen.
Es lohnt in diesen Tagen beispielsweise
LIEBE.MACHT.TOD oder das Spiel von Romeo und Julia zu lesen, die Bearbeitung von
Romeo und Julia. Entstanden für das Berliner Schiller-Theater (Thomas Brasch und Katharina Thalbach führten selbst Regie, UA: 8. November 1990), erzählt es die bekannteste Liebesgeschichte der Welt vor dem Hintergrund einer zu Ende gehenden Seuche. Was damals die Pest und zur Zeit der Uraufführung Aids war, ist heute die Corona-Pandemie. Die Gesellschaft atmet auf, erste Feste finden statt, allerdings mit Maskenpflicht. Und ob sich die Menschen noch einmal so nah kommen werden wie vor der Seuche, weiß niemand.
Anlässlich von Thomas Braschs 80. Geburtstag im Februar 2025 werden einige Theater seinen Stücken, Werken, seinem Leben eine Bühne geben. Denn in der Geschichte von Brasch und seiner Familie in all ihren Ambivalenzen erzählt sich die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts auf eindrückliche Weise. »Ich bin aus Geschichte gemacht«, sagte Brasch über sich selbst, auf seine Erfahrungen anspielend und auf sein historisches Bewusstsein. Es ist das Ineinandergreifen von Leben und Literatur, das die Grundspannung seiner Kunst begründet. Die Traumata begannen früh: 1956, mit elf Jahren, schickten ihn seine Eltern, aus dem englischen Exil in die sowjetische Besatzungszone zurückgekehrte jüdische Emigrant:innen, in die »Kadettenschule der Nationalen Volksarmee« in Naumburg, Thomas Brasch hat über diese Zeit nie geschrieben. Prägende Erfahrungen bis zur »einmaligen Ausreise Zwecks Übersiedlung aus der DDR« im Dezember 1976 waren die Haft wegen »staatsfeindlicher Hetze« nach einer Flugblatt-Aktion gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR 1968 (sie wurde frühzeitig auf Bewährung beendet, Brasch wurde stattdessen als Fräser in die Produktion geschickt und erhielt Einblick in das Arbeitsleben in der DDR wie kaum ein:e andere:r Autor:in); prägend auch der Verrat des Vaters an die Staatssicherheit. Da rebellierte ein junger Mann gegen den Staat, den sein Vater verkörperte. Und die politische Aktion des Sohnes kostete den Vater seine Nomenklatura-Karriere.
Wer heute
Papiertiger liest, erhält einen Eindruck vom Ringen mit diesem Staat und dem Wunsch des Verfassers nach einer anderen DDR, die Thomas Brasch nie verlassen wollte. Im Dezember 1976 gingen Brasch, Katharina und Anna Thalbach doch nach West-Berlin, damit Thomas Braschs Bücher publiziert werden konnten.
Papiertiger ist eine Collage aus Texten, kurzen Szenen, Prosa, Gedichten, die Thomas Brasch als Lyriker unvergessen machen. Ebenfalls enthalten ist Hahnenkopf, das balladenartige Gedicht mit einer Szenerie aus dem Bauernkrieg. Für Brasch markierte dieser den Beginn des deutschen Dilemmas, das »Fehlschlagen der einzigen Revolution in diesem Land«, wie er im März 1977 in einem Brief an seine Lektorin Elisabeth Borchers schrieb. Mit dem Gedicht
Wie viele sind wir eigentlich noch, wurde er zum Sprecher einer »traurigen Generation«. Christa Wolf zitierte das Gedicht 1987 in ihrer Laudatio auf Thomas Brasch anlässlich der Verleihung des Kleist-Preises und sprach mit Blick auf die DDR von Braschs »Sehnsucht nach dem Land, das die Deutschen sich nicht zu schaffen wussten«.
Bisher keine Uraufführung erlebt hat
Eulenspiegel, ein Fragment. Erstmals erschien der Text 1977 in der ersten Suhrkamp-Veröffentlichung des Schriftstellers, im Sammelband
Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen. Der Text ist auch deshalb für eine heutige Umsetzung faszinierend, weil sich darin die Poetik einer zeitgenössischen Überschreibung formuliert. Eulenspiegel interessiert Brasch als historische Figur mit Blick auf eine zu entwickelnde Haltung der Schauspieler:innen. Die Frage, warum in Deutschland bisher keine Revolution gelungen sei, prägt auch diesen Stoff aus den 1970er-Jahren. Beginnend mit dem Sommer 1972 notiert Brasch Ideen, Überlegungen, Regieanweisungen, Szenen, Erzählungen. Eingang findet die Reaktion des Redakteurs bei der VEB Schallplatte Berlin auf den Stoff, Brasch lebt damals noch in Ost-Berlin: Eulenspiegel dürfe nicht zu sehr Revolutionär sein, sonst wundere man sich, dass er nicht mit anderen Mitteln agiere als mit Streichen. Später dann in West-Berlin, reflektiert Brasch die Rolle des Schriftstellers und Intellektuellen in der BRD. »Dabei wird mir bewußt, wie stark nach meinem Wechsel von einem deutschen Land in das andere an mich die Erwartung herangetragen wird, aus einer hermetischen Kunstwelt herauszukommen und die Aufforderung formuliert wird, mich feuilletonistisch zu verhalten. ›Dein asketischer Kunstbegriff hat vielleicht dort funktioniert, wo du herkommst, hier ist er lächerlich‹«. Brasch entlarvt dieses »deutsch-deutsche Mißverständnis einer Stellungnahme«, sie sei »Ideologie als Ersatz für Wirbelsäule« und ergänzt: »Kunst war nie ein Mittel, die Welt zu ändern, aber immer ein Versuch, sie zu überleben.«
Noch in der DDR entstanden Märchenbearbeitungen, die als Kinderschallplatten erschienen und bisher auf der Bühne noch nicht uraufgeführt wurden: Braschs Bearbeitung von Hans Christian Andersens Märchen
Der Schweinehirt etwa. Voller Musik und Gespür für die Misstöne des Hochmuts beschreibt das Märchen den Fall einer verzogenen Prinzessin. Ebenfalls noch nicht uraufgeführt: die abgründige Bearbeitung des Grimm‘schen Märchens
Die Gänsemagd mit dem Titel
Falada, entstanden 1969/70, im Frühjahr 1998 für das Berliner Ensemble umgearbeitet. Hier spricht der abgeschlagene Kopf des Pferdes Falada, das zum Zeugen eines ungewöhnlichen Rollentausches und des Machtgefüges bei Hofe wird. Die Intensität dieser Texte erfasst eine:n bis heute mit einer Wucht, die sich aus der Schärfe von Braschs sozialem Bewusstsein ergeben, aus der Knappheit der Dramaturgie, der Konzentration der Fabel, dem lebensklugen Skizzieren der Figuren.
»Meine Figuren sind sicher die, die am Rand aus Unfähigkeit oder weil’s ihnen in der Mitte zu eng ist, sich aufhalten. Da sind sie halt immer gefährdet, gefressen zu werden«, sagte Thomas Brasch in einem Interview über sein Stück
Lovely Rita (UA, Schiller Theater Berlin, 7.3.1978, Regie: Niels-Peter Rudolph). Diese gefährdeten Figuren sind auch heute relevant. Es lohnt der Blick auf Braschs Erfolgsstück
Mercedes, entstanden während seines Aufenthaltes in der Schweiz (UA, Schauspielhaus Zürich, 5.11.83, Regie Matthias Langhoff): erzählt wird die Begegnung zweier junger, arbeitsloser Menschen ohne Perspektiven, herrlich ihre vom Berliner Dialekt gefärbte Kunstsprache. Oder auf
Lieber Georg. Ein Eis-Kunst-Läufer-Drama aus dem Vorkrieg, eine Auseinandersetzung mit dem jung verstorbenen expressionistischen Künstler Georg Heym, ein Anti-Kriegsstück. Henning Rischbieter bescheinigte dem jungen Künstler Brasch anlässlich der Uraufführung 1980 (UA, Schauspielhaus Bochum, Regie Manfred Karge und Matthias Langhoff): »Dieses Theater hat Zukunft.«
»Der Stoff von gestern, und die Form von morgen«, so bezeichnet Brasch das Spannungsfeld seiner künstlerischen Arbeiten. Da die Stoffe eine je eigene Form erforderten – nur wenige Künstler:innen agierten so souverän in den unterschiedlichen Formen - entstanden neben Gedichten, Theaterstücken, Prosa, Hörspielen, Überschreibungen auch Filme (die der Suhrkamp Verlag später in der filmedition suhrkamp veröffentlichte). Brasch lesen bedeutet, immerzu Sätze mitschreiben zu wollen. Bei der Lektüre des von Martina Hanf herausgegebenen Interview-Bandes
»Ich merke mich nur im Chaos«. Interviews 1976 – 2001 (Suhrkamp Verlag 2009). Oder bei Herr Geiler (UA, Deutsches Theater Berlin, 27.8.1999, Regie Hiltrud Stark), einer herrlichen Farce nach Goethe, in der der »Gammler« in einer Waldhütte, geschmückt mit Fotos von Karl Marx, Jimmi Hendrix und Ernesto »Che« Guevara – gegen die allmächtigen ökonomischen Gesetze – seinen Glauben an die kommunistische Bewegung kultiviert und dabei Braschs Bekenntnis zum utopischen Potential von Kunst formuliert: »Ja, wenn das Leben ausweglos ist und vernietet, ist es die Kunst, die einen Ausweg bietet.«
von Nina Peters